28.12.2017

Die 50er Droge

»Lichtstärke ist durch nichts zu ersetzen. Außer durch mehr Lichtstärke.«
– Goldene Regel der Fotografie

PROLOG

Es beginnt an einem nahezu klischeehaft nasskalten Tag im Herbst. Unsere Heroine sitzt in ihrem Lieblingskaffeehaus. Früher nannten wir das schlicht Café. Sie lauscht – ihren Triple-Espresso-White-Chocolate-Macchiato nippend – eher beiläufig den Klängen eines austauschbaren Jazzsamplers, der emotionalen Tiefgang und elitär intellektuellen Esprit vorgaukelt. In der Hand hält sie ein Buch.

Das lag da halt.

Ein Bildband mit Fotografien von Yousuf Karsh. Sie weiß nicht, wer das ist. Aber sie hofft, dass das Wetter sich bessern würde, wenn sie nur lang genug mit ihrem Kaffee zu tun hätte. Die Zeit zwischen jedem Nippen könne sie ja mit dem Buch überbrücken. Auch wenn die ersten Fotos sie kalt lassen. Sind halt Leute drauf. Winston Churchill hat sie nicht einmal erkannt. Der ist auch heute nicht mehr wichtig.

Sie legt das Buch zur Seite und wagt einen Blick auf ihr Smartphone. 9%. Schlechte Bedingungen zum Surfen. Ladekabel? Fehlanzeige. Zurück zum Buch.

Hemingway. Von dem hat sie schon gehört. Sie versucht, in die Augen des Mannes auf dem Foto zu schauen, aber der schaut einfach an ihr vorbei, so sehr sie auch seinen Blick sucht. Sehr schade, wie sie findet. Er wirkt interessant. Aber an ihr nicht interessiert.

Sie blättert weiter. Nun schaut sie sich die Bilder schon etwas länger an. Intensiver. Bei Dr. Stephen Leacock verharrt sie. Diese Freude, dieser pure Optimismus, dieses… Wetter. Sie ist neidisch. Der kanadische Sonnenschein von 1941 wäre ihr jetzt sehr recht.

Doch zunehmend wird ihr auch das Wetter egaler. Sie ist fasziniert. Fotografien, die sie berühren, sie auf eine Reise mitnehmen, sie fragend anstarren oder mutig anlachen. Fotografien, die die Seelen der Fotografierten zu konservieren scheinen. Sie denkt an ihren Instagram Account.

Shoppen, Essen, Urlaub und jede Menge Likes. Bizarr, denn im Buch findet sich kein einziges Like. Dafür Bilder für die Ewigkeit. Ihre eigenen Kreationen hingegen geraten ausnahmslos sofort nach dem Liken in Vergessenheit. Die werden nie in einem Buch zu finden sein. Die werden niemals jemanden das schlechte Wetter bei einem leider etwas zu teuren Kakao mit Kaffeenote und entschieden zu viel Milchschaum untermalt von unoriginellen, generischen Jazz-Einmaleins-Dudeleien im wenigstens bequemen Sessel sitzend vergessen lassen.

Sie spürt etwas in sich erwachen. Kreativität, den Drang, sich künstlerisch mitzuteilen und eine neue Leidenschaft. Ein kurzer Blick: 6%. Reicht noch für einmal googlen. Nur zweihundertvierunddreißig Meter bis zum nächsten Fachgeschäft. Foto Irgendwas.

Scheiß aufs Wetter.

KAPITEL EINS – FÜR DEN ANFANG

“Gut für den Einstieg”, haben die gesagt. “Praktisch und flexibel”, haben die gesagt. “Damit können Sie absolut nichts falsch machen”, haben die gesagt. Sie zweifelt.

Sie wollte doch bloß eine Kamera, die auf Knopfdruck tolle Fotos macht. Ist doch logisch. Die erste Frage der Verkäuferin fand sie darum auch so bescheuert. Was sie denn fotografieren wolle. Alles natürlich. Blöde Frage. Hauptsächlich im Urlaub. Und Tiere sind ganz wichtig. Und ab und zu Blumen. Sie liebt Blumen.

“Nehmen Sie ruhig eine, bei der Sie die Objektive wechseln können”, haben die gesagt. Warum weiß sie nicht. Aber das klang wichtig, und das sieht auch wichtig aus. Immerhin waren im Laden viele dieser Kameras größer als die anderen. Das sollte ja schon eine Rolle spielen.

Sie denkt an das Buch. An den Blick. Die Sonne. Die Gefühle. Auf dem Display ihres Computers strahlen ihr die eigenen Fotos entgegen. Nüchtern und neutral. So war’s da halt.

Sie beginnt, YouTube zu suchten. Sie versteht vieles nicht, die reden da immer von Blendenstufen und Brennweiten, vom Dynamikumfang und von irgendwelchen Zeiten. Und sie glaubt so langsam, das Buch von Raoh und Ih-So sollte sie auch mal lesen.

Ach, YouTube. So viele gute Ratschläge. Und was man alles braucht – das war ihr in dem Umfang vorher gar nicht bewusst. Wie schön, dass ihr Kontostand das hergibt. Ein paar Blitze, ein paar Stative, ein paar Filter, ein attraktiver Gurt, eine modische Tasche und allerlei Kleinkram werden peu à peu von den bekannten Logistikdienstleistern der Bundesrepublik direkt an ihre Haustür geliefert.

Nur wenige Namen der Hersteller ihrer neuen Helferlein kann sie fehlerfrei aussprechen. Ihre Fotos würden damit natürlich trotzdem viel besser werden.

Oder wenigstens anders.

KAPITEL ZWEI – WAS ZUVIEL IST

Dieses verfluchte Buch. So viel Zeit und so viel Geld – alles für nichts. YouTube half nicht, Foto Irgendwas half nicht. Sie blickt auf das Display ihres Computers. Die Zeugnisse ihres Versagens der jüngsten Vergangenheit starren sie aus den kleinen Vorschaubildchen ihrer Bildverwaltung an. Jede Menge Likes.

Und nun? Aufgeben? Die Leidenschaft ist noch nicht erloschen. Aber was muss sie denn noch alles kaufen? Sie nimmt ihre Kamera zur Hand und blickt auf das Moduswahlrad. Grün. Wie immer.

Moment. Wahl-Rad? Zwischen was hat man hier die Wahl? Neben dem grünen Symbol sind ein paar kryptische, aber doch eigentlich selbsterklärende Zeichnungen abgebildet. Und Buchstaben. “Ein P, ein M”, flüstert sie sich selbst zu.

Steckt die Lösung des Rätsels um die verunglückten Fotos – ein Titel eines Drei Fragezeichen Hörspiels würdig – vielleicht in oder an der Kamera? “Fotografieren Sie ruhig erstmal in grün”, haben die gesagt. Erstmal. Ein Anglizismus bohrt sich in ihren Kopf.

Been there, done that.

Ihre Expedition geht weiter. Sie ignoriert Akkufach und Speicherkarten-Einschub. Kennt man doch. Sie lächelt kurz. Für Anschlüsse hat sie generell nichts übrig. Ob das nun Mini-, Micro-, Macro-, Marco- oder Polo-USB ist – wen kümmert sowas? Sie dreht die Kamera so, dass sie sich das Objektiv besser ansehen kann.

“Achtzehn, Strich, zweihundert”, murmelt sie. “Praktisch und flexibel”, haben die gesagt. “Drei Komma fünf, Strich, sechs Komma drei”, analysiert sie. “Gut für den Einstieg”, haben die gesagt.

Diese Zahlen müssen eine tiefere Bedeutung haben. Ist ihr fotografisches Versagen vielleicht mathematisch begründbar?

Sie lehnt sich in ihrem Schreibtischstuhl zurück, ihre Finger umspielen die zahlreichen Knöpfe und Rädchen des Kameragehäuses. Der nächste Schritt würde kein leichter sein.

KAPITEL DREI – URSACHE & WIRKUNG

Selbst ist die Frau. Das war und ist stets ihre Devise. Observieren, analysieren, machen. Eigentlich ganz einfach. Warum stößt sie hier plötzlich an Grenzen? Mit einer Mischung aus leichtem Zorn und Mismut legt sie nun alle Hoffnungen in etwas Unbekanntes. Etwas, das sie nicht greifen kann, das ihr sogar ein wenig Angst macht. Auch wenn sie das niemals zugeben würde.

Sie bucht einen Kurs.

Am Tag der Veranstaltung packt sie all ihren Mut und ihre Ausrüstung zusammen und macht sich auf den Weg. Trotz des dichten Stadtverkehrs trifft sie zwanzig Minuten vor Beginn der Schulung ein. Der Duft von frischem Kaffee verteilt sich in dem hellen Schulungsraum. Die unterschiedlichsten Fotografien werden von einem Beamer an eine weiße Wand projeziert. Sie ist nervös.

Neben ihr sind noch weitere Teilnehmer im Raum. Und ein junger Mann, der heute scheinbar durch die Veranstaltung führt. Davon geht sie jedenfalls aus, denn als wäre er hier zuhause schenkt er Kaffee aus und legt Kugelschreiber neben das Notebook, das die Bilder für die Wandprojektion an den Beamer schickt.

Ihre Verunsicherung steigt. Drei Männer stehen in einer kleinen Gruppe zusammen und unterhalten sich. Sie vermutet, dass alle drei kurz vor der Rente stehen. Vom Alter her müsste das passen.

Die Drei sprechen über Fotografie. Sie seien alle schon lange dabei. “Ich hab ja zuhause noch die Ah-Eh-Eins, die hat auch immer fantastische Fotos gemacht”, sagt einer der Männer. Die beiden anderen lächeln und nicken wohlwollend. Ob sie sich wohl im Termin geirrt hat?

Zwei weitere Frauen betreten den Raum, sie reden miteinander. Die kennen sich bestimmt. Eine von ihnen grüßt laut in den Raum hinein und ruft: “Sie müssen heute schon ein bisschen langsamer machen, ich hab ja gar keine Ahnung!” Unsere Heldin beruhigt sich ein wenig.

Wenige Minuten später sind alle Plätze besetzt und die Veranstaltung beginnt. Was folgt, ist eine lange Aneinanderreihung der fotografischen Grundregeln – und unsere Heldin lernt schon zu Beginn eine ganze Menge. Besonders beim Thema Schärfe ist sie hin und weg. Wie sie mithilfe der Blende des Objektivs die Schärfe in der Tiefe ihres Bildes bestimmen kann, grenzt für sie an Magie.

Bloß schade, sie hat den falschen Zauberstab.

Der Herr mit der Ah-Eh-Eins bietet ihr an, eins seiner Objektive mal auszuprobieren. Sie schaut ihn zunächst verdutzt an. Das Objektiv ist sehr klein. Sehr, sehr klein. Und leicht. Ah-Eh-Eins deutet auf die aufgedruckten Zahlen. “Eins zu eins Komma acht”, sagt sie bestätigend. “Fünfzig Millimeter”, ergänzt sie.

Kein Zoom, soviel weiß sie bereits. Der solle – so der Trainer – ohnehin besser in den Beinen des Fotografen stattfinden. Sie nimmt ihr Zoomobjektiv von der Kamera und setzt das 50er an. Blende auf 1.8, auf den Punkt fokussiert, der erste Schuss.

Heimlich staunend blickt sie auf das Display ihrer Kamera. Sie könnte heulen vor Glück. Ah-Eh-Eins füllt den Großteil des Bildes scharf aus. Die Teilnehmer hinter ihm verschwimmen in der Unwichtigkeit. Genau das möchte sie können.

Sie denkt an die Fotografien von Yousuf Karsh zurück. An die kanadische Sonne im Gesicht von Dr. Leacock und die unscharfen Wolken und Bäume im Hintergrund. Gut, bei ihrem aktuellen Motiv fehlen sowohl die Sonne, als auch Himmel und Bäume. Zudem hat Ah-Eh-Eins mit Leacock auch nicht die entfernteste Ähnlichkeit.

Aber hier auf ihrem Kameradisplay sieht sie den Grund für ihre Anstrengungen, für ihre YouTube-Abende und die vielen Bestellungen. Sie sieht, wozu sie mithilfe ihrer Kamera in der Lage ist. Und sie sieht, wohin ihre fotografische Reise gehen wird.

“Da musste ein bisschen aufpassen”, sagt Ah-Eh-Eins, “Das Ding is’ ’ne Einstiegsdroge.”

“Warum?”, fragt unsere Heldin mit nahezu kindlicher Freude, während sie weiterhin auf ihr Display starrt.

“Das 50er ist nich’ teuer, das kriegste für’n Appel und ’n Ei. Aber wenn man erstmal Blut geleckt hat, werden schnell Wünsche geweckt. Vierundzwanzig, fünfunddreißig und fünfundachtzig Millimeter, zum Beispiel. Das sind alles Standards, die man einfach haben muss. Und die sind deutlich teurer.”

Ah-Eh-Eins hat Recht. Und liegt doch so falsch.

EPILOG

Einhundertzwanzig Euro hat es gekostet. Bereits über einhunderttausend Fotos hat sie schon damit geschossen. Zugegeben, alles keine preisgekrönten Meisterwerke. Aber nächste Woche eröffnet sie ihre eigene kleine Ausstellung in ihrem Lieblingskaffeehaus. Das liest sich in den Einladungsschreiben auch moderner als Café.

Immer wieder hat sie in der Zwischenzeit andere Objektive ausprobiert. Das 24er wie das 85er. Auch mal ein Makro. Aber für sie hat ihr fotografischer Werdegang mit dem kleinen Fünfzig-Millimeter begonnen. Sie kennt diese Linse in- und auswendig und hat sie immer dabei.

Die Kamera hat sie mittlerweile durch ein neueres Modell ersetzt. Die ist zwar etwas kleiner als ihre Alte, aber dafür etwas schneller und komfortabler zu bedienen.

Zufrieden schaut sie auf die kleinen Vorschaubildchen ihrer Bildverwaltungssoftware. Der Nachmittag ist klasse gelaufen. Sie hat eine gute Freundin fotografiert. Die hatte mal nach aktuellen Fotos gefragt, die Kamera sei ja so toll.

Sie klickt auf ein Foto, das einen kurzen Augenblick später das gesamte Display ausfüllt. Ihre Freundin strahlt auf dem Foto. Wie die Sonne, deren Licht eine Gesichtshälfte gleichmäßig ausleuchtet. Im Hintergrund Bäume und der Himmel, natürlich unscharf.

Sie lehnt sich lächelnd auf ihrem Schreibtischstuhl zurück. Sie wird ihrer Freundin genau dieses Foto zum Geburtstag schenken, großformatig und stilvoll gerahmt. Und sie weiß, wie sehr sich ihre Freundin darüber freuen wird. Dass ihre Freundin der Kamera die Schuld am Gelingen der Aufnahme geben wird, ist ihr egal.

“Dafür mache ich das”, flüstert sie.

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